In dieser Arbeit wird untersucht, wie die Illustrationen von Moritz Retzsch auf den Inhalt und die Handlung in Goethes Faust I wiederspiegeln. Als Vorlage der Untersuchung dient uns die 1806 beim Cotta-Verlag erschienene Ausgabe. Bei den Illustrationen zu dieser Ausgabe handelt es sich eigentlich um Umrißzeichnungen, die so genannt werden, weil sie ihre Gegenstande nur durch Linien erfassen. Der dargestellten Sache fehlt daher jegliche Plastizitat. Interessanterweise finden sich Umrißzeichnungen auf zu Klassikern gewordenen literarischen Texten und man kann sagen, dass der Stil um 1800 als gesamteuropaisches Phanomen gesehen werden kann. Als einer der wesentlichen Inspiratoren kann John Flaxman gelten, der auf diese Weise die Klassiker Homers und Dantes illustrierte. Retzschs Zeichnungen gehen uber einfache Skizzen der Hauptpersonen hinaus; seine Darstellungen sollen nicht nur die Wesenszuge der Personen deutlich machen, sondern auch der Bildhintergrund ist so ausgestaltet, dass Umgebungen und Landschaft mit ins Bild kommen. Dies ist durchaus ungewohnlich, aber eindrucksvoll. Daruber hinaus interpretiert der Kunstler das Geschehen nach eigener Sicht. In der Szene mit dem Titel Studierzimmer, gestaltet er den Raum beispielsweise als großes Durcheinander. Dieser Enge entspricht die geistige Begrenztheit der Hauptperson. Auch im Fall Gretchens zeigen die Linien ihren Chrakter oder ihre Wesenszuge. Die Konturen ihres Gewandes werden mal mit harten, mal mit sanften Linien immer nur angedeutet, wodurch wohl ihre Unsicherheit oder ihre Hin-und-Hergerissenheit zum Ausdruck gebracht werden soll. Retzsch geht also in seinen Arbeiten uber das rein Abbildende hinaus und gibt seiner Perspektive auf Personen und Umgebung Konturen. Indem Retzsches Illustration den Text Goethes kommentieren, entstehen intertextuelle Bezuge, die den Urtext um die autonome Sichtweise eines anderen Kunstlers erweitern.