Seit Ruth Benedict in ihrem Buch The Chrysanthemum and the Sword zur Charakterisierung der japanischen und Abgrenzung zur US-amerikanischen Kultur das Begriffspaar Scham- und Schuldkultur eingefuhrt hat, hat dieser Gedanke in der Wissenschaft seine Wirkungskraft kaum verloren, obwohl er auch immer wieder als ungeeignet fur eine wissenschaftliche Auseinandersetzung kritisiert worden ist. In diesem Aufsatz werden zunachst der Hintergrund und die Grundthese von The Chrysanthemum and the Sword vorgestellt und dann die Charakteristika und die Unterschiede von Scham und Schuld diskutiert. Anschließend sollen die Merkmale analysiert werden, die auftreten, wenn diese beiden gesellschaftspsychologischen Erscheinungen als Kategorien eines Kulturkreises erweitert angewendet werden, und welche Probleme darin enthalten sind. Anhand dieser Analyse wird dann die Problematik des Begriffspaars Scham- und Schuldkultur uberpruft. Die Einwande an das Begriffspaar lassen sich grob in drei Punkte zusammenfassen: Erstens ist das Konzept der internen und externen Sanktion, das Benedict als Maßstab fur die Unterscheidung beider Kulturen angewendet hat, nicht haltbar, weil auch beim Schamgefuhl internalisierte moralisch-ethische Wertkriterien eine entscheidende Rolle spielen. Des weiteren konnen Scham- und Schuldgefuhle auch innerhalb einer Kultur durchaus komplementar auftreten und sind ineinander umwandelbar, d.h. eine absolute Unterscheidung beider Kulturen beinhaltet auch stets die Gefahr, dass sich Ausnahmen anfuhren lassen. Und schließlich gibt es keinen Grund, die Schamkultur als im Vergleich zur Schuldkultur weniger entwickelt zu betrachten. Dass die Asymmetrie zwischen West und Rest, Christentum und Heidentum, Zivilisation und Barbarei, und somit der Entwicklungsgedanke und die Privilegierung der Schuldkultur in der Polarisierung beider Kulturen seine Ursache hat, stellt eine latente Gefahr dar, wenn diese Unterscheidung tatsachlich auf einen bestimmten Kulturraum angewendet werden soll. Dazu noch homogenisiert dieser Dualismus - ebenso wie der von die Weißen und Farbigen“ oder der von Ich und das Andere“ - die Schamkultur, und ist daher ignorant z.B. gegenuber den Unterschieden zwischen der Schamkultur in ostasiatischen und der in islamischen Landern. Daruber hinaus konnte in heutigen multikulturellen Gesellschaften die Schamkultur, in der das Subjekt sich sozial, d.h. intersubjektiv orientiert, besser funktionieren als die Schuldkultur, in der die Subjekte unter ‘einem‘ Gewissen homogenisiert sind, und mit einem ‘anderen‘ Gewissen nur schwer umgehen konnen. Um hier aber eine ubergreifende Forschung sinnvoller zu machen, sollte man zunachst im Detail die Basisfakten klaren. Es scheint daher angebracht, an Stelle einer pauschalen Etikettierung eines bestimmten Kulturkreises als Scham- oder Schuldkultur konkreter zu analysieren, was innerhalb der Wertekategorien dieses Kulturkreises unter Scham- bzw. Schuldkultur zu subsumieren ist, welche gesellschaftlichen Konsequenzen sich daraus ergeben, und vor allem, wie Scham- und Schuldgefuhl als solche konzipiert und organisiert sind.