Bei den Texten historiographischer Pra¨gung wird die Geschichte des Vergessens, das hinter dem ideologisch gefa¨rbten kollektiven Erinnern steht, gezielt `vergessen`. Wird dieses angestrebte Wechselspiel aus Erinnern und Vergessen, in dem sich ein nationales Geda¨chtnis begru¨nden soll, `literarisch` immer gerechtfertigt? Dazu wird in meiner Arbeit die dramatischen Verarbeitungen von Geschichte, die Geschichtsdramen, zur Diskussion gestellt. Die Geschichtsdramen bilden Modelle fu¨r das Geda¨chtnis an und fu¨llen es gleichzeitig mit Materialien auf, deren Relevanz noch aus dem Modell hergeleitet werden muss. Als literarische Texte von konstruktivem Charakter und zugleich im Spannungsfeld von Dramen und Theater auf Visualita¨t bezogen, bieten sich Geschichtsdramen jedoch auch an fu¨r eine Reflexion der Pra¨sentation von Vergangenheit in Text und Bild. Die Geschichtsdramen Christian D. Grabbes umfassen ein breites thematisches und formales Spektrum und bieten daher sich an als strukturierendes Prinzip fu¨r eine erweiterte Konfiguration der Geschichte, die nicht mehr nur an Identita¨tsbildung interessiert ist. In diesen Dramen kann beobachtet werden, wie gegen solches angestrebte Wechselspiel der Repra¨sentation der Einsatz der Imagination aufgeboten wird. Napoleon oder die hundert Tage folgt einem Weg vom (Theater-)Bild u¨ber den Bericht und dessen literarischer Auil&ung bis zur Beschwo¨rung einer Geschichte, In der Konzentration auf die Tiefsinne artikuliert sich eine Erfahrung, die dem historischen Wissen entzogen bleibt. Diese Erfahrung dem Text der Geschichte wieder abzulesen, ist das Ziel der Hermannsschlacht. Der Versuch, literarisch jene Authentizita¨t zu beschwo¨ren, die immanifesten Text der Geschichte verlorengegangen ist, realisiert sich in Strategien des Schocks. Was dieser Versuch freilegt ist, ist eine `Blutspur`, die sich durch den Text wie durch die Geschichte zieht. Hier ist der literarisch-a¨sthetische Text als eine erneute Lektu¨re zu verstehen. Diese Lektu¨re ist mehr an den latenten als an den manifesten Momenten der u¨berlieferung interessiert. Es sind die Spuren eines Tilgungsprozesses, die die Aufmerksamkeit des dramatischen Interpreten der historischen u¨berlieferung erregen, wenn der nicht mehr lesbare Name in den Vordergrund ru¨ckt. Die Aufmerksamkeit sucht nicht im toten Speicher, sondern in der lebendigen Imagination nach der Geschichte und la¨sst sich nicht vom Informationsgehalt der Schrift, sondern von dem fu¨hren, was mit ihr geschehen ist. Dieses Geschehen wird metaphorisch mit dem identifiziert, was den Figuren am Runde der Geschichte geschieht: Es sind gerade die Figuren, die die Zersto¨rungen zu erleiden haben und die zugleich mit stummen Gesten ihrer Ko¨rper protestieren gegen das, was die heroischen Mythen des historischen Geda¨chtnisses (wie im Hannibal) ihnen antun, was sich aber nicht selbst zur Geschichte verfestigen kann. Diesen Protest bringt die dramatische Phantasie in die Erinnerungsarbeit ein. Erinnert werden soll, dass etwas vergessen wurde. Es geht um das Nichtvergessendes Vergessens. Schließlich wird das Wechselspiel aus Erinnern und Vergessen `literarisch` gesto¨rt, und zwar durch einschießende Erinnerungspartikel, die sich der angestrebten Harmonisierung widersetzen. Im Spannungsfeld von Abwesenheit und Anwesenheit, vonhistoriographischer Repra¨sentation und sinnlicher Gegenwa¨rtigkeit ist ein Streit angesiedlet, der die latente Mo¨glichkeit, sich den - ideologisch gefa¨rbten - historischen Geda¨chtnissen zu widersetzen, ero¨ffnet. Es sind bestimmte Geschichten, die sich im sozialen Geda¨chtnis verfestigen, im Vorma¨rz etwa Geschichten eines militanten Nationalismus. Aber die Perspektive der Geschichtsdramatik bezieht sich auf die Konstruktivita¨t des Geda¨chtnisses selbst. u¨ber die Paradoxien der Geschichte wird ein Blick auf die Widerspru¨chlichkeiten ideologischer Modelle mo¨glich, die sich in historischen Kategorien formulie