Der Zu¨rcher Literaturstreit, eine der heftigsten literarischen Kontroversen der Nachkriegszeit, wurde im Dezember 1966 in Zu¨rich entfacht und dann im ganzen deutschsprachigen Raum fast ein Jahr lang fortgesetzt. In der vorliegenden Arbeit wird der Versuch gemacht, die wichtigsten Streitpunkte hervorzuheben, deren Diskussionsergebnisse zusammenzutragen und seine Bedeutung aus der heutigen Distantz, vor allem im Hinblick auf das Verha¨ltnis von Literatur und Gesellscha¨ft, zu u¨berpru¨fen. Es ging etwa um zwei Behauptungen, die der Literaturprofessor Emil Staiger in der Rede $quot;Literatur und O¨ffentlichkeit$quot; anla¨ßlich des Empfangs des Literaturpreises der Stadt Zu¨rich vertreten hat, und die man thesenhaft wie folgt formulieren ko¨nnte: Erstens habe der Dichter eine Verantwortung der O¨ffentlichkeit bzw. Gesellschaft gegenu¨ber, durch deren Erfu¨llung er die sittliche Energie der Gesellschaft vermehren solle. Daher ha¨nge sein ku¨nstlerischer Rang mit seiner sittlichen Gesinnung eng zusammen. Zweitens sei die moderne Literatur, vor allem die zeitgeno¨ssische, in diesem Sinne kaum erwa¨hnenswert, weil sie sich im Namen der litte´rature engage´ mit allerlei ekelerregenden pathologischen Erscheinungen der modernen Gesellschaft bescha¨ftige. Die Leute, die Einwa¨nde gegen Staiger erhoben haben, bezogen sich hauptsa¨chlich auf die zweite These und nannten seine Verurteilung der modernen Literatur ein Fehlurteil. Unter anderen hat Max Frisch darauf hingewiesen, daß Staiger die Maßsta¨be, die er von der Weimarer Klassik herleitete, auf die Bewertung der modernen Literatur angewendet habe. Die erste These, die das Verha¨ltnis von Literatur / Kunst zur Sittlichkeit formuliert hat, ist von den meisten Teilnehmern vernachla¨ssigt worden, weil sie auch von den Gegnern Staigers als selbstversta¨ndlich richtig angenommen wurde. Wenn man aber die Rede genauer liest, findet man in der Behauptung Staigers den Primat der Sittlichkeit u¨ber die Kunst vorausgesetzt, worauf mit Verspa¨tung, erst in der Analyse des Literaturstreites, aufmerksam gemacht wurde. Das ist eine sehr fragwu¨rdige Auffassung, die man entschieden ablehnen sollte. Denn die Literatur ha¨ngt nicht von der Sittlichkeit ab. Sie muß sich nicht der bestehenden Moral der Gesellschaft bedingungslos fu¨gen. Vielmehr sieht der Autor, besonders der moderne, seine Aufgabe darin, die bestehenden sittlichen Gesetze immer wieder in Frage zu stellen. Die natu¨rliche Beziehung zur Gesellschaft ist also nicht die Affirmation, sondern die Ablehnung ihrer o¨ffentlichen Ordnung. In dieser Hinsicht ist die Freiheit der Literatur eine Notwendigkeit. Das entspricht such unserem Wissen, daß die Freiheit der Literatur immanent ist, weil sie in der Einbildungskraft des Menschen wurzelt. Der Zu¨rcher Literaturstreit ist trotz seiner Heftigkeit fast folgenlos geblieben. Er hat z.B. auf die Reformversuche der Germanistik in der Folge der Studentenbewegung 1968 kaum gewirkt. Das zeigt sich auch wieder im großen Literaturstreit von 1989-1990, der sich an Christa Wolfs Was bleibt entzu¨ndete, weil es sich auch hier im Grunde um die eigentliche Frage des Zu¨rcher Literaturstreites handelt, na¨mlich um das Verha¨ltnis von Literatur und Gesellschaft oder von A¨sthetik und Moral. Paradoxerweise beweist aber die immer wiederkehrende Diskussion die Wichtigkeit der Frage, die sich nicht leicht beantworen la¨ßt.