Seitdem 1967 die Abhandlung von Jauß “Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft” erschienen ist, hat die Rezeptionsa¨sthetik im Mittelpunkt der Methodendiskussion in der Literaturwissenschaft gestanden und ist zur Zeit, wo mehr als zwei Jahrzehnte vergangen sind, zweifelsohne als eine der wichtigsten literaturwissenschaftlichen Methoden anerkannt. In der vorliegenden Arbeit wird versucht zu untersuchen, wo sich ihre theoretische Voraussetzungen und Grundsa¨tze von denen der bisherigen literaturwissenscaftlichen Methoden unterscheiden und inwieweit ihre eigentliche Absicht, “das im Streit der marxistischen und formalistischen Methode offengebliebene Problem” zu lo¨sen oder “die KIuft zwischen Literatur und Geschichte, historischer und a¨sthetischer Erkenntnis zu u¨berbru¨cken”, gelungen ist, vor allem im Bereich literarischer Wertung. Im Grunde genommen ist alles wissenschaftliche Bemu¨hen immer Wesenserkenntnis und auch zugleich Wertung, denn jede menschliche Ta¨tigkeit la¨ßt sich von Erkenntnisinteresse leiten. Es gilt selbstversta¨ndlich auch in der Literaturwissenschaft. Die Theorie literarischer Wertung ha¨ngt also mit der Vorstellung von der Literatur eng zusammen. In der traditionellen, formalistischen Literaturwissenschaft, wo ein literariches Kunstwerk fu¨r autonom gehalten wird, ist sein a¨sthetischer Wert auch etwas Absolutes, was von aller Realgeschichtlichen enthoben ist. Fu¨r solches kann es kein objektives Wertungsmaßstab geben und dann ist literarische Wertung keine wissenschaftliche Sache. In der materialistischen Literaturwissenschaft, wo die Kunst fu¨r das Ziel Emanzipation eine a¨sthetische Praxis ist, wird dagegen das literarische Werk nur im gesamten gesellschaftlichen Zusammenhang betrachtet. Da wird es hauptsa¨chlich nach außerliterarischen Kriterien bewertet und seine Formelemente werden mithin vernachla¨ßigt. Die Rezeptionsa¨sthetik gru¨ndet sich auf der Erkenntnis, daß das Werk als a¨sthetisches Objekt erst im Kopf des Lesenden, also in der Spannung der Wirkungsbedingungen des Textes und des Erwartungshorizontes des Lesers, konkretisiert wird. Und die Distanz, die dabei zwischen dem Werk und dem Erwartungshorizont des Lesers entsteht, die a¨sthetische Distanz, wird rein a¨sthetischer Wert. Dabei erhalt der Erwartungshorizont seine Objektivita¨t dadurch, daß er aus dem Vorversta¨ndnis der Gattung, aus der Form und Thematik zuvor bekannter Werke und aus dem Gegensatz von poetischer und praktischer Sprache konstituiert wird. Dementsprechend kann die a¨sthetische Distanz mit der Zeit vera¨nderlich sein und dadurch wird auch der a¨sthetische Wert historisiert. Der Rezeptionsa¨sthetik scheint ihre eigentliche Absicht meist gelungen zu sein, die Kluft zwischen Literatur und Wissenschaft zu u¨berbru¨cken, was den bisherigen Methoden mißglu¨ckt geblieben ist. Trotzdem bleiben in dem Bereich literarischer Wertung einige Probleme nicht gelo¨st. Fraglich ist z. B., ob die Objektivitat des Erwartungshorizont einwandfrei sei. Und es ist auch schon erwiesen worden, daß die a¨sthetische Distanz als Wertungskiterium nicht u¨berall verwendet werden kann.