Das Thema von Erinnerung und Vergessen hat an Bedeutung gewonnen, besonders in Bemg auf den Versuch, Literatuflwissenschafi) und Kulnuwissenschaft interdisziplinir zu verbinden. In der kultursemiotischen Perspektive fungieren literarische Texte als Erinnerungsriume, in denen Erinnerung und literarische Einbildungskrafi zusammenwirken. Jeder konkrete Text konnotiert den kulturellen Makm-Gedachtnisraum und entwifi zugleich einen in sich selbst thematisierten Erinnerungsraum. Dieses Erinnerungskonzept eines Textes erscheint als neue Gedichmishandlung und zugleich als neue Interpretation der Kultur, indem er auf eigene Weise Sinn konstruiert. Also 1st die Analyse des Erinnerungskonzeptes von einem konkreten Text notwendige Voraussetzung, nicht nur fir die Untersuchung seines Bezugs auf die ganze Kultur, sondern auch fir die Kommunikation zwischen Literahuwissenschatl und Kulturwissenschafi. In dieser Hinsicht kann die Analyse des Erinnerungskonzeptes und der Sinnkonstruktionsweise von Kakas Texten einen Beitrag leisten, In Kakas Texten erscheint die Erinnerung als Metapher wie Schacht oder Tunnel. Mit diesen Metaphem stellt Kaka den Wunsch nach dem Ausgraben des Vergessens dar. Ka&a impliziert durch die Erinnerung m a r die Moglichkeit der metahistorischen Gegenwart"(A. Assmann), aber die ErinneNng erweckt das Vergessen von der wigkeit oder der Wahrheit endgiiltig. Und in Kafkas Texten spielt `die Erinnerung als Kraft eine groRe Rolle in der Identitatsstihg. Die Erinnerung wird dem Menschen besonders `mit Schmerzen` eingepriigt, und damit wird die Identitit uber den Sozialisationsprozess des Subjekts ausgeformt. Dabei spielt der Korper eines Menschen auch eine wichtige Rolle. Die Korper-Schrifl" wie eine Wunde oder Narbe erinnert als sichtbares Andenken im Fleisch an die institutionell festgelegte Identitat. Dariiber hinaus wirken die Erinnerungsstabilisatoren wie Affekt, Symbol und Trauma auch in die Identitatsgestaltung hinein. Was die Zeitstruktur angeht, fasst Kafka die Gegenwart als synchrone Prasenz von Vergangenheit und Zukunfl auf. Mit der EriMeMg an die Vergangenheit weitet sich die Perspektive auf die Antizipation der Zukunfi aus. SchlieRlich gerat die Erinnerung in Kafkas Texten in die zeitlose bewusstseinslose Dimension. Die entworfene Erinnerung bei Kafkas Schreiben strebt dem Vergessen der identitiitsstiftenden Erinnerung zu. Ka&a namlich legt das Vergessen bloB, und zwar indem er sich noch an die schmerzlichen Erlebnisse wiederholend erinnert und sie schreibt. Also erweist sich Kafkas Schreiben als das paradoxe Geschopf der Erinnerung, die eher auf das Begehren nach dem Vergessen zuriickzufiihren ist. SchlieRlich zeigt sich Kafkas Mnemotechnik als die Kunst der De-Reprisentation und des De-Speichems der bestehenden Bedeutungen, d.h. die Vergessenskunst. Kafkas Schreiben erweist sich als paradoxe Verbindung von Erinnerung und Vergesssen, die die Erinnerung des Vergessens aus dem Vergessen des Erinnerten heraus zu stiflen vermag. Wenn wir die osteuropaische Rezeption Kafkas nach dem Zweiten Weltkrieg beobachten, konnen wir sehen, welche Rolle Kafkas literarische Texte als kulturelles Gedichtnis spielten. Unter der Dogmatik des sozialistischen Realismus wurden Kafias Texte durch kulturpolitische Mechanismen von dem offentlichen Gedachtnis ausgenommen und in Vergessenheit gemgen. Aber Kafkas Texte wurden gar nich auf immer im Archiv begraben. Im Gegenteil, sie wirkten als Anti-Gedichtnis, das das offentliche herrschaftliche Gediichtnis bedrohte. Besonders seit dem Prager Friihling galten Kakas Texte als ein Muster, das die Rolle der Literatur als schopferisches kritisches Kultur-Gedichtnis zeigt.