O¨rtlich beta¨ubt, der dritte Roman des Nobelpreistra¨gers Gu¨nter Grass, ist vielleicht das bisher am fatalsten mißverstandene von allen seinen Werken. Sowohl die weitgehend zuru¨ckhaltende Aufnahme. die das Buch in Deutschland fand, als auch der u¨berraschend große Erfolg in den USA, sind m.E. beide auf die mangelnde Einsicht in die a¨sthetischen Prinzipien dieses Romans zuru¨ckzufu¨hren. Die Kritiker hier und da haben bis heute darauf wenig Rucksicht genommen, daß der Roman ein dialektischer und allegorischer Roman ist, d.h., daß er auf dem Gestaltungsprinzip der dialektischen Figurenzusammensetzung und der Poetik der Allegorie basiert. Mit dem Begriff des dialektischen Romans beziehe ich mich auf den Tatbestand, daß Plot und Handlung stark reduziert bzw. zersto¨rt. Spannungen nicht aus dem unmittelbaren Handlungsablauf. sondern aus dialekti- schen Verha¨ltnissen der Figuren bezogen werden. Der Figurenkonstellation und dem romanpoetischen Prinzip von o¨rtlich beta¨ubt entspricht aufs zutreffendste dieser Begriff: Nicht dramatische Ereignisse, sondern Diskussionen und Konflikte der fu¨nf Figuren zueinander stehen im Mittelpunkt der Romanstruktur und erzeugen die a¨sthetischen Spannungen. Die zahnmedizinischen Abla¨ufe, die der Erza¨hler Starusch detailrealistisch darstellt, bedeuten fast immer $quot;mehr als da ist`(IV 19). Sie sind also die raffiniert erdichteten Allegorien auf die Zeitgeschichte: Die o¨rtliche Beta¨ubung meint etwa nicht nur den medizinischen Zustand, sondern sie spielt auch auf den gesellschaftlichen Zustand der BRD in den spa¨ten 60er Jahren an, der unter dem moralischen wie politischen Immobilismus litt und wie ‘o¨rtlich beta¨ubt’ la¨hmend wirkte.